„Buch-Kunst“ eigener Art
Im Château de Chaumont-sur-Loire ist derzeit ein Arrangement des französischen Künstlers Pascal Convert (geb. 1957) zu sehen. Unter dem schlichten Titel „Livres“ sind hier, wo im Jahr 1957 eine ganze Bibliothek verbrannte, Regale mit „kristallinen Büchern“ ausgestattet.
Die Objekte wirken wie Abgüsse, entstanden aber auf andere Weise. Das Herstellungsverfahren wird, in Analogie zum Metallgussverfahren der „verlorenen Form“, als „la cristallisation au livre perdu” bezeichnet. Diese entsteht, indem Bücher (die vorher mit feuerfestem Material ummantelt werden) mit flüssigem Glas übergossen werden. Es verbrennt die Bücher teilweise, nimmt dabei ihre Form an und schließt ihre Überreste dauerhaft in sich ein. Jede Skulptur stellt so eine „mémoire vitrifiée“ eines individuellen Buches dar.
Für bibliophile Menschen ist die Melancholie dieser „livres perdus“ eindringlich. Man erkennt noch die Formen alter Leder-Folianten mit Bünden und Blindprägungen und mit manchmal beinahe lesbaren Rückenschildern. Doch so anrührend die Installation ist – sie wirkt doch auch doppelbödig, womöglich sogar scheinheilig. Denn die verlorenen Bücher, an die erinnert wird, wurden durch den „Kristallisationsprozess“, der die gläsernen Memorialobjekte hervorbrachte, ja überhaupt erst zerstört.
Inspiriert ist die Vitrifikation aber wohl auch vom Phänomen der Petrifikation – die Reste von Lebewesen, die längst (aus)gestorben sind, haben als Versteinerungen überdauert und erzählen in diesem transformierten Zustand von einer fernen Vergangenheit. So gesehen wäre jeder „livre perdu“ ein Opfer, das gebracht wurde, um stellvertretend und emblematisch auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, das unsere Kulturgeschichte durchzieht: das der verlorenen (und oft genug verbrannten) Bücher.
Verlorene Bücher in der Oberpfalz
Verloren sind auch zahllose Bücher aus den Oberpfälzer Klosterbibliotheken. Den Zeitläuften fielen sie besonders nach der ersten und zweiten Säkularisationswelle zum Opfer. Von den mittelalterlichen Beständen zeugen nur noch Bibliothekskataloge, so gut wie alle Kodizes sind verschollen.
Weitaus besser erhalten sind die Bestände aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die Provinzialbibliothek Amberg beherbergt noch rund 35.000 Bände aus den alten Abteien. Durch intensiven Bemühungen um die Provenienz-Erschließung in Amberg dürfte ein Großteil der Bücher aus den ehemaligen Klosterbibliotheken identifiziert sein. Doch nicht alle Bücher aus den Klöstern landeten in den staatlichen Bibliotheken, wie ein Abgleich der erhaltenen Werke mit den historischen Bibliothekskatalogen zeigt.
Der Verbleib der fehlenden Bücher ist noch nicht restlos geklärt. Dass man mit den Kodizes die Schlaglöcher in den Straßen gepflastert hätte, ist eine Säkularisationslegende, die man heute noch bei Bibliotheksführungen in Waldsassen zu hören bekommt. Belegt ist stattdessen, dass etwa ein Drittel im Jahr 1815 tatsächlich in Amberg verbrannte und dass es im 19. Jahrhundert zu Dublettenverkäufen kam. Alle Bestandslücken lassen sich damit allerdings nicht begründen, weitere Forschungen scheinen angebracht.
„Passé“ oder „perdu“?
„Perdu“ sind aber in gewisser Weise auch Bücher, die physisch durchaus noch existieren – nämlich dann, wenn sie, die doch als Kommunikationsmittel produziert wurden, den Kommunikationskreisläufen entzogen sind. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Der banalste und vermutlich häufigste ist fehlende Relevanz. Alles, was geschrieben wird, ist zeitbedingt und bedürfnisorientiert (seien es Bedürfnisse des Buchmarkts oder auch nur des Autors) und damit nach einer gewissen Frist zwar nicht wirklich perdu, aber passé. Viele Bände der Amberger Bibliothek dürften deswegen seit ihrer Einlagerung lediglich noch einmal für die Provenienz-Recherche geöffnet worden sein. Für Angehörige der historischen Zunft verlieren aber natürlich auch Bücher obsoleten Inhalts ihre Relevanz niemals völlig.
Ein anderer Grund für scheinbar verschwundene Bücher kann aber auch deren fehlende Erschließung sein. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass nennenswerte Bibliotheksbestände existieren, die seit Langem nicht mehr zur Kenntnis genommen wurden, beispielsweise die historische Pfarrbibliothek von Waldsassen (immer noch am Ort) und die von Wondreb (im 19. Jahrhundert als Teil der Dekanatsbibliothek Tirschenreuth weitergeführt; heute im Besitz der Zisterzienserinnenabtei Waldsassen, aufgestellt im Bibliotheksaal).
Die Konvolute enthalten nicht nur Bestände, die im 18. Jahrhundert für seelsorgerliche Zwecke der Klosterpfarreien zusammengestellt wurden. In die Waldsassener Pfarr- wie in die Tirschenreuther Dekanatsbibliothek gingen auch Priesternachlässe von zisterziensischen Ex-Konventualen ein (dasselbe dürfte für die Altbestände der heutigen Abtei Waldsassen gelten). Ihre Auswertung könnte Einblicke in den religiösen und intellektuellen Horizont der Ordensangehörigen gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewähren. Es ist zu erwarten und zu erhoffen, dass sich in Oberpfälzer Pfarrhöfen oder an anderen Orten weitere Bestände dieser Art ausfindig machen lassen – vielleicht als „passé“ angesehen, aber eben doch nicht „perdu“.
Lit.:
Convert, Pascal: Memento, Chaumont-sur-Loire 2020.
Lipp, Walter: Geschichte der Staatlichen Bibliothek (Provinzialbibliothek) Amberg, in: Sitz der Weisheit. 200 Jahre Provinzialbibliothek Amberg. Staatliche Bibliothek Amberg 2005, Kallmünz 2005, 9–25.
Ders./Gieß, Harald: Die Staatliche Bibliothek (Provinzialbibliothek) Amberg und ihr Erbe aus den oberpfälzischen Klosterbibliotheken, Amberg 1991.
Lübbers, Bernhard: Waren die Straßen mit Büchern gepflastert? Zu einem weit verbreiteten Stereotyp über die Folgen der Büchersäkularisation in Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Bibliotheken: Innovation aus Tradition. Rolf Griebe zum 65. Geburtstag (Hgg. Klaus Ceynowa/Martin Hermann) Berlin – München – Boston 2014, 589–599.
Malzer, Christian/Kaindl, Annemarie: Was bey den drobigen Stifften vnd Clöstern noch vor Bibliothecen vorhanden. Die Klosterbibliotheken der Oberen Pfalz im Spiegel der Kataloge von 1600/01 und die Errichtung der Bibliotheca Palatina Ambergensis, in: Jahrbuch für Buch- und Bibliotheksgeschichte 1 (2016) 93–124.
Schrott, Georg: Die Dekanatsbibliothek Tirschenreuth. Ein bisher unbeachteter Buchbestand und seine Geschichte, in: Jahrbuch für Buch- und Bibliotheksgeschichte 4 (2019) 77–105.
Ders.: Die historischer Pfarrbibliothek von Waldsassen – Zeugnisse religiöser Buchkultur vor und nach der Säkularisation (in Vorbereitung).