Nachdem Waldsassen im Jahr 1865 einen Bahnanschluss erhalten hatte, begann der Tourismus eine zunehmende Rolle spielen, auch für das Zisterzienserinnenkloster. In der 18. Auflage des „Baedeker“ für Süddeutschland und Österreich, erschienen im Jahr 1879, findet man erstmals den Hinweis: „im Bibliotheksaal schöne Schnitzereien“ (S. 166). Andere Reiseführer mit ähnlichen Einträgen folgten bald.
Das Kloster selbst bewarb nun die Bibliothek durch den Druck von Ansichtskarten, mit deren Hilfe Touristen dazu beitrugen, den Ruf des Saales zu verbreiten. Eine reizvolle papierene Antiquität und interessante Quelle stellt in diesem Zusammenhang ein Postkarten-Leporello dar, den das Kloster beim Verlag Ottmar Zieher, München in Auftrag gab.
Der Druck ist nicht datiert. Auf die ungefähre Entstehungszeit verweisen aber bereits die Jugendstil-Ornamente auf dem Deckel. Zum Glück ist auf dem Bild des Bibliotheksportals die Kreide-Inschrift von Dreikönig zu sehen. Demnach wurde die Fotoserie 1909 erstellt. Ein Abgleich mit den Illustrationen im 1927 veröffentlichten Bibliotheksführer von Sr. M. Leonia Lorenz zeigt, dass die Bilder dort wieder auftauchen. Sie stammen demzufolge von Anton Hölzl (1857–1938), der just 1909 in Waldsassen ein Fotostudio eröffnete und somit vom Kloster einen seiner ersten Aufträge erhielt. Bereits im Jahr darauf zeigte er die Bilder auf der Oberpfälzer Kreisausstellung in Regensburg.
Im selben Jahr ließ man auch ein ehemaliges Industriegebäude im Klostergarten zum sogenannten Gartenschulhaus umbauen, das auf der ersten Abbildung rechts neben dem Klostergebäude prangt. Ob es bei der Drucklegung überhaupt schon vollendet war, muss dahingestellt bleiben. Das Bild ist kein Foto, sondern eine Idealansicht, auf der die topografischen Gegebenheiten nicht korrekt wiedergegeben sind. Beispielsweise fehlt der Bachlauf der Wondreb zwischen Konventbau und Schulhaus. Ziel der Darstellung war es offensichtlich, den neuen Bau nahe an das Klostergeviert heranzurücken mit ihm das Niveau zu demonstrieren, das die schulische Infrastruktur des Klosters mittlerweile aufwies.
Die zweite Karte zeigt ein Foto des Bibliotheksflügels. Die erhöhte Perspektive lässt besonders gut erkennen, dass Außenwand und innere Raumaufteilung nicht übereinstimmen. Durch die Bibliotheksfenster sieht man die Balustraden, unter denen sich die Wölbung der Refektoriumsdecke abzeichnet. Denn die Kubatur des Speisesaals beschränkt sich nicht, wie es die Außenwand suggeriert, auf das Parterre, sondern erstreckt sich über etwa anderthalb Stockwerke.
Die Gesamtansicht, die Porträts zweier Atlanten und die Abbildungen der Deckenfresken sind Motive, die an Attraktivität nichts verloren haben. Postkarten dieser Art werden auch heute noch verkauft.
Die Deckenfresken sind in der Bilderfolge von Süden nach Norden nummeriert, also in umgekehrter Reihenfolge, als es ihre Ausrichtung auf den Nordeingang eigentlich nahelegt. Eventuell ließ man Besucher damals von Süden ein. Andererseits wird das repräsentative Nordportal zu Beginn der Bilderfolge als erstes Innenraumfoto (aber mit verschlossenen Türen) gezeigt.
Vor allem die beiden „Oestlichen Teilansichten“, aber auch die anderen Fotos, auf denen leere Regale zu sehen sind, zeigen zweierlei. Zum einen wird spürbar, wie sehr die Raumwirkung auf das Vorhandensein der Bücher angewiesen ist – sie wurden in den Regalen nicht nur gelagert, sondern erfüllten dabei zugleich eine Funktion als dekorative Wand-„Verkleidung“. Zum anderen lässt sich die Art der aktuellen Bibliotheksnutzung erkennen. Bücher sind fast nur auf der Empore zu sehen. Der Raum diente zur damaligen Zeit also überwiegend anderen Zwecken: wohl als Festsaal bei besonderen Gelegenheiten und eben als musealer Raum, den man gerne vorzeigen wollte und deshalb mit Medien wie diesem Ansichtskarten-Leporello bewarb.
Lit.:
Zum Fotografen:
Treml, Robert: Die Oberpfälzer Kreisausstellung 1910 in Regensburg und der Waldsassener Fotograf Anton Hölzl, in: Waldgeist, Tuch und Orchidee. Beiträge zur Geschichte unserer Heimat zwischen Fichtelgebirge und Böhmerwald (Landkreis-Schriftenreihe 22) Pressath 2010, 155–164.
Deckel und Bilder des Leporello in der Reihenfolge des Originals.