Welche Botschaft sollen Carl Stilps Tragefiguren in der Waldsassener Stiftsbibliothek vermitteln? Besucherinnen und Besucher des Saales sind regelmäßig von ihnen fasziniert. In ihrer Lebendigkeit wie in ihrer Rätselhaftigkeit weisen sie eine ausgeprägte „agency“ auf; sie bringen und halten Menschen körperlich und geistig in Bewegung. Man wird geradezu genötigt, sie abzuschreiten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Das Wissen um ihre ursprüngliche Bedeutung scheint allerdings schon im Lauf des 18. Jahrhunderts verlorengegangen zu sein, denn P. Dionysius Hueber (1746–1812), ab 1767 Mönch in Waldsassen und ab 1780 Bibliothekar, wusste über sie nur zu sagen: „Die größeren Figuren, die unter dem mittleren Umgang stehen, gehören zum bäuerlichen Genre, sind aber so lebendig und naturgetreu, daß der Betrachter keiner Erklärung bedarf.“ Dass er nicht mehr mitteilen konnte und wollte, könnte seinen Grund darin haben, dass die von Abt Eugen Schmid (im Amt 1724–44) ab 1724 eingerichtete Bibliothek während einer Führungskrise unter seinem Nachfolger Alexander Vogel (1744–56) wieder verwahrloste und im Zuge dessen auch das mündlich überlieferte Wissen um die Atlanten verloren ging.
Seit 150 Jahren wird nun um die Deutung der Figuren gerungen. Zwei Beispiele können die unterschiedlichen Ansätze verdeutlichen. Es handelt sich um die Schnitzwerke links und rechts des südlichen Bibliotheksportals:
In der Auflistung scheint sich eine ausgeprägte Beliebigkeit der Deutungen widerzuspiegeln. Heute genießt Baumgartls Interpretation – mit Friedrichs Varianten – kanonische Geltung, davor war es 60 Jahre lang die gänzlich andere von Sr. Leonia Lorenz.
Es sind aber noch viele Fragen offen: Sollte im Zuge von Bibliotheksbesichtigungen die Führungslinie bei den Atlanten beginnen oder enden (was für ihre Botschaft nicht unerheblich wäre)? Sind sie einzeln oder paarweise zu interpretieren? Kommunizieren sie miteinander oder mit den Besuchern? Wollen sie einen Dialog mit den Menschen aus Fleisch und Blut aufnehmen oder agieren sie über deren Köpfe hinweg? Waren eher die Waldsassener Mönche Adressaten ihrer Botschaft oder waren es die Gäste des Klosters, die die Bibliothek besichtigten?
Der Beitrag „Von Gurlitt bis heute“ im Band „Die Stiftsbibliothek in Waldsassen“, der in den nächsten Tagen erscheint, setzt sich kritisch mit der Deutungsgeschichte auseinander und verweist auf Unerledigtes in der ikonologischen Auseinandersetzung mit der Bibliothek. Vermittelt werden auch zwei ausgeprägte Charakterzüge des Abtes Eugen Schmid: Er muss ein starkes antiquarisches Interesse besessen haben und – als Auftraggeber und Letztverantwortlicher der Schnitzwerke – eine ausgeprägt satirische Ader.
Lit.:
Müller, Kathrin/Schrott, Georg: Von Gurlitt bis heute. Kritische Relecture der kunstgeschichtlichen Literatur zum Waldsassener Bibliotheksaal, in: Schrott, Georg (Hg.): Die Stiftsbibliothek in Waldsassen. Untersuchungen zu Geschichte, Bestand und Rezeption (Vita regularis. Abhandlungen 86), Münster 2024, 333–375.
Baumgartl, Edgar: Stiftsbibliothek Waldsassen. Cisterciensische Geistigkeit am Beginn der Aufklärung (Große Kunstführer 157), München / Zürich 1989.
Der Bibliotheksaal des Klosters Waldsassen/Oberpfalz (Hg. Zisterzienserinnenabtei Waldsassen) München o. J. [1953/58?].
Friedrich, Verena: Waldsassen Stiftsbibliothek (Peda-Kunstführer 426), Passau 1998 (22003).
Fuchssteiner, Franz Benno: Beschreibung der Klosterkirche zu Waldsassen, Amberg o. J. [um 1872].
Lorenz, Maria Leonia: Das Geheimnis des Bibliotheksaales zu Waldsassen. Ein Versuch der Erklärung, Regensburg 1927.
Müller, Bruno: Theatrum stultorum. Carl Stilps plastische Illustrationen zum „Narrenschiff“ in der Stiftsbibliothek zu Waldsassen. Ein Beitrag zur Nachwirkung der Ikonologie des Cesare Ripa auf die bildende Kunst des 18. Jahrhunderts im Fichtelgebirgsraum, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 43 (1963) 159–198
Stibitz, Theobald: Stiftsbibliothek Waldsassen (Kunstführer 688), München / Zürich 1959.
Witt, [Leopold]: Der Bibliothek-Saal von Waldsassen. II. Teil: Die Atlanten von Stilp und selbständigen Stukkaturen, Eger o. J. [um 1926].