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Waldsassener Wintergruß 1903

Handelt es sich hier um eine Weihnachtskarte oder um ein frühes Dokument von nordoberpfälzischem Wintertourismus?

Die zweifarbige Lithografie zeigt in einer Vignette mit neobarock geschwungenen, in den Karton geprägten Umrisslinien eine Fotografie der verschneiten Waldsassener Stiftskirche. Von den Unterkanten des Bildausschnitts hängen – ebenfalls geprägte – Eiszapfen herab, ebenso vom oberen Rand der Ansichtskarte. Auf der Zeichnung links daneben fährt jemand unter einem Nadelbaum auf einem Schlitten hervor. Ist die freudig winkende Figur ein Bub mit Zipfelmütze oder ein Weihnachtswichtel mit nordischem Migrationshintergrund? Ein auf Weihnachten bezogener Text ist nicht aufgedruckt, nur zwei Beschriftungen der Ansicht und das Impressum des August Kleemann (1869–1933), eines protestantischen Druckers und Verlegers, der sich 1897 in Waldsassen niederließ. So vermittelt allein die Kirchenarchitektur eine religiöse Botschaft, wenn nicht auch sie eher als dekoratives Element gedacht sein sollte. Gelaufen ist dieses Exemplar der Karte im Jahr 1903.

Gegenwärtige Betrachterinnen und Betrachter „lesen“ einen solchen Anblick sicher anders als die Menschen vor 120 Jahren. Im Kontrast zu heutigem Konsum wirkt die Karte geradezu asketisch. Auf dem Kirchplatz sind weder Menschen noch Fahrzeuge zu sehen. Es war kein Schneepflug und kein Streuwagen tätig, denn es gab noch so gut wie keine Automobile. Wohlvertraute Advents- und Weihnachts-„Dekoration“ im öffentlichen Raum waren damals neben den Eisblumen auf den Fensterscheiben die Eiszapfen-Friese an den Dachtraufen – Winterästhetik in Zeiten vor der Wärmedämmung. An Lichterketten-Orgien und flächendeckende nächtliche Lichtverschmutzung war technisch noch nicht zu denken, auch nicht an Weihnachtsmärkte mit lautstarker „Last Christmas“-Beschallung. Wenn nicht in den Kirchen oder Familien gesungen wurde, war es eine „staade Zeit“. Denn es gab auch noch kein Radio.

Ob es sich nach damaligen Maßstäben oben um eine Kitsch-Postkarte handelte – mit dem Relief der Eiszapfen und dem frohen Schlittenfahrer –, ist schwer zu beurteilen. Schließlich ist Kitsch nicht leicht zu definieren und von den jeweils geltenden kulturellen Maßstäben abhängig und es gab in der Kaiserzeit wesentlich ausgeprägtere Varianten.

Doch wie auch immer: Wenn man Andrea Roedig folgen will, hat der Kitsch vielleicht gerade in der Weihnachtszeit seinen angemessenen Platz: „Das Sentimentale [...] ist kein falsches Gefühl, sondern ein echtes Gefühl am falschen Platz, und vielleicht brauchen wir so etwas wie eine über sich selbst aufgeklärte, kluge und doch positive Sentimentalität. [...] Denn im fetten, sentimentalen Kitsch liegt eine Wahrheit, offen und unverborgen. Es ist die Wahrheit eines zutiefst menschlichen Wunsches nach Erlösung“, sagte die Philosophin im vergangenen Jahr in einem vorweihnachtlichen Beitrag für den Deutschlandfunk.

Womöglich scheint Weihnachten den Kitsch also geradezu zu benötigen – als Medium einer unausgesprochener Erlösungssehnsucht, auf die das Fest mit seiner christlichen Botschaft antwortet.

 

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Lit.:

Roedig, Andrea: Warum wir an Weihnachten rührselig sein dürfen (17.12.2023).

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