
Wunderkammern erfreuten sich unter den Aristokraten und Gebildeten der Frühen Neuzeit großer Beliebtheit. Wer es sich leisten konnte, richtete Kabinette ein, in denen Sammelobjekte unterschiedlichster Art zusammengeführt wurden. Auswahlkriterium war ihre „Kuriosität“ (daher auch der Begriff „Kuriositätenkabinett“), also das, was menschliche Neugier und Schaulust befriedigte und Anstöße gab, über Wesen und Beschaffenheit der Welt nachzudenken. Die Betrachtenden sollten staunen angesichts der Exotica aus fernen Ländern oder auch der Mirabilia, die die einheimische Naturgeschichte oder die Kunstfertigkeit von Mechanikern und anderen Handwerkern hervorgebracht hatte: Kokosnüsse und Straußeneier, die zu Pokalen gefasst waren; Zähne von Narwalen (oder „Einhörnern“, wie man zunächst dachte); ausgestopfte Krokodile und Bälger von Paradiesvögeln; Schneckengehäuse und Muschelschalen in den unterschiedlichsten Formen; Präparate von Tieren mit zwei Köpfen; antike Fundstücke; filigranste Drechselarbeiten aus Elfenbein; antike Münzen, chinesisches Porzellan u. v. m.
Was hat das mit dem Erfolgsautor Odilo Schreger (1697–1774) aus der oberpfälzischen Benediktinerabtei Ensdorf zu tun? Christel Meier hat darauf hingewiesen, dass Bücher in gewisser Weise wie Kunstkammern funktionieren können. Die illustrierten Bücher, auf die sie sich bezieht, bezeichnet sie als „virtuelle Wunderkammern“. Mirabilia konnten aber nicht nur im Medium des Bildes, sondern auch in dem des Texts präsentiert werden. Flemming Schock hat Eberhard Werner Happels (1647–90) Zeitschrift „Gröste Denckwürdigkeiten der Welt oder so-genannte Relationes Curiosæ“ untersucht, erschienen zwischen 1681 und 1691, und sie als „Text-Kunstkammer“ interpretiert. Er betont dabei „die prinzipielle Nähe von Objekten und Texten in der ‚Kultur der Neugier‘“ (S. 188). Happel habe „im ‚Leitmedium‘ der zeitgenössischen Kunstkammer ein adäquates Modell zur Wissenspopularisierung“ gefunden (S. 189). In seiner Zeitschrift sei es „zur imaginären ‚Wiederholung‘ der Sammlung im Text“ gekommen (ebd.).
Odilo Schreger verfolgte mit seinen Schriften einen ähnlichen Kurs. Sein „Lustig- und Nutzlicher Zeit-Vertreiber“ (1. Auflage 1753) und sein „Zu nutzlicher Zeit-Anwendung Zusamm getragener Auszug Der Merckwürdigsten Sachen“ (zuerst 1755) erschienen im handlichen Oktav-Format und konnten so bequem in der Tasche mitgeführt werden. Die enthaltenen Texte sind selbst schon Kollektionen von „Sammelobjekten“, nämlich von kompilierten Text-„Objekten“, die, im Wortlaut oft kaum angetastet, aus anderem Schrifttum übernommen wurden. Inhaltlich handelt es sich um Sammlungen von Kuriositäten, von Exotica und Mirabilia; präsentiert werden sie zum Zweck der Bildung wie des Amusements.
Wollte man Schregers Publikationen aus dem Blickwinkel des Fortschritts-Paradigmas beurteilen, wirken sie – zwei Generationen nach Happel – auf den ersten Blick recht veraltet. Gerade deswegen würden die Werke eine eingehendere Untersuchung verdienen, die Schregers spezifische Sicht auf Wissen, das Wunderbare und Kuriose und damit letztlich auch sein Verständnis des Verhältnisses von Gott und Welt untersucht und kontextualisiert.
Quellen:
Schreger, Odilo: Lustig- und Nutzlicher Zeit-Vertreiber..., Stadtamhof 21754.
CD:
Odilo Schreger: Merckwürdigkeiten von Unvernünfftigen Thieren, 2005 (erhältlich im Pfarrbüro Waldsassen).
Literatur in Auswahl:
Literarische Klosterkultur in der Oberpfalz. Festschrift zum 300. Geburtstag von P. Odilo Schreger OSB (Hgg. Manfred Knedlik, Alfred Wolfsteiner) Kallmünz 1997, 173–188.
Listri, Massimo: Cabinet of Curiosities. Das Buch der Wunderkammern. Cabinets des merveilles, Köln 2020 (als aktuelles Beispiel für zahlreiche ähnliche Publikationen).
Meier, Christel: Virtuelle Wunderkammern. Zur Genese eines frühneuzeitlichen Sammelkonzepts, in: Felfe, Robert/Lozar, Angelika (Hgg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin 2006, 29–74.
Schock, Flemming: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der „Relationes Curiosae“ von E. W. Happel (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 68), Köln – Weimar – Wien 2011 (mit zahlreichen Hinweisen zu weiterer Literatur).
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